Anleitung zum Neugierigsein
Marion
Welsch aus Kleinmachnow erfuhr, ihr Opa solle ein Nazi gewesen sein,
und begann nachzuforschen. Das Buch, das entstand, ist Zeit- und
Familiengeschichte – und Zeugnis des Ringens mit ihrem Vater
Von Volker Eckert
Kleinmachnow - Dass der Vater sich wehren würde,
wusste Marion Welsch vorher. Aber die Reaktion des Bruders war ein
Tiefschlag. „Lass unsern Vater in Ruhe, das hält er nicht
aus“, hatte der gesagt. Nicht nochmal in den alten Geschichten
wühlen, wozu denn? Lieber endlich einen Schlussstrich ziehen.
Man kennt das.
Aber dafür war es nach Ansicht von Marion Welsch
viel zu früh. Denn es gab noch einiges herauszufinden. Als
sie mit ihrem Bruder telefonierte, war sie mit ihrem Projekt schon
ziemlich weit vorangeschritten. Aber was war das für ein Projekt,
worum ging es? Die Autorin sagt, „nicht um die Frage, ob Opa
ein Nazi war oder nicht“. Darum, was der Vater wissen konnte.
Was er bereit ist, zu offenbaren. Aber auch darum, mit ihm ins Gespräch
zu kommen, ihn zu verstehen. Und mit ihm ein ganzes Volk, das Hitler
begeistert in den Krieg folgte und hinterher von nichts gewusst
haben wollte.
Vor drei Jahren fuhr Marion Welsch, die seit 1997
in Kleinmachnow wohnt, mit ihrem Vater in den Ort Guttau (der Name
ist nicht der echte) im östlichen Brandenburg, wo die Familie
bis vor 60 Jahren eine Tuchfabrik hatte. In einer Broschüre
finden sich ein paar Sätze über ihren Großvater:
dass er ein Nazi gewesen sei und seine Angestellten mit furchtbaren
Methoden behandelt habe. Ihr Vater wird blass. Immer wieder sagt
er: „Mein Papa war kein Nazi.“
Solche Sätze kennt die Autorin schon: „Alles
Nazigegner in meiner Familie, gute Menschen.“ Aber stimmt
das auch? Es hat Studien gegeben, die zeigen, wie Kinder und Enkel,
die Geschichten ihrer Nazi-Vorfahren umdichten. Da haben dann Gestapo-Mitarbeiter
Juden bei der Flucht geholfen und Ortsgruppenleiter Widerstandskämpfer
gedeckt. Marion Welsch ist misstrauischer, denkt sich: Der Vater
will seinen Vater schützen, weiß sicher mehr, als er
– vielleicht sich selber – eingesteht. Nationalsozialismus,
Holocaust, Marion Welsch kannte das wie jeder aus der Schule und
den Medien. Jetzt hat das irgendwie mit ihrer Familie zu tun.
Also fängt sie an, Fragen zu stellen. Sie recherchiert
im Internet, kramt alte Briefwechsel aus Archiven, fährt nach
Guttau, veröffentlicht einen Aufruf, in dem sie nach Zeitzeugen
sucht. Und sie löchert den Vater, der bei Kriegsausbruch 13
war, mit E-Mails: Wie war er, der Opa? Wie war das mit der Schließung
der Fabrik 1942? Warum trat er in die NSDAP ein? Gab es Zwangsarbeiter,
Juden? Was wusste man über die Deportationen?
Die Korrespondenz zwischen Vater und Tochter macht
den größten Teil des Buches aus. „Ich bohre meine
Fragen in den Kopf meines Vaters“, schreibt die Autorin. Gleichzeitig
das schlechte Gewissen, den Vater zu bedrängen, einen alten
Mann, die Angst, er könnte den Kontakt abbrechen. Doch der
alte Mann bleibt stur: vom Holocaust nichts gewusst, der Parteieintritt
seines Vaters: um die Firma zu retten, Juden waren Geschäftspartner.
Und so lässt Marion Welsch nicht locker, aus
Neugierde und aus dem Gefühl heraus, bisher getäuscht
worden zu sein. Das große Rätsel der deutschen Geschichte:
Wie konnte das passieren? Hat man nichts gewusst oder nichts wissen
wollen – wurde der Massenmord in Kauf genommen? Dafür
immer nur Hitler als Schuldigen präsentiert zu bekommen, ist
unbefriedigend. Das steht zwar nicht so in „Sprich mit mir“,
aber es liest sich zwischen den Zeilen: Mit der Verdrängung
der Eltern wächst das Verlangen der nächsten Generation,
einen Schuldigen und damit eine Erklärung für das Unerklärliche
zu finden – und sei es in der eigenen Familie.
Zwei Jahre lang beherrscht das Thema Marion Welschs
Leben, liegt ihr Beruf als Lerntherapeutin auf Eis, um zu forschen
und die Geschichte aufzuschreiben. Sie gräbt sich durch zahllose
Bücher, geht in Archive, schreibt E-Mails, denkt nach, liegt
nachts wach. Dabei entdeckt sie alte Briefwechsel, spricht mit Menschen
und arbeitet so die Geschichte ihrer Familie auf – einer deutschen
Familie im Nationalsozialismus. Die Schuldfrage, sagt sie heute,
solle der Leser selber beantworten.
Jetzt sitzt sie in der Morgensonne am Platz vor dem
Nauener Tor und wirkt entspannt. Die zwei Jahre sind vorbei, bei
ihren Nachforschungen hat sie so viel herausgefunden, wie möglich
war. Oder fast so viel. Vor drei Wochen ist das Buch erschienen
und die größte Überraschung war: Ihrem Vater hat
es gefallen.
Es ist noch nicht lange her, da erschien plötzlich
eine ganze Reihe ähnlicher Bücher wie „Sprich mit
mir“. In diesen Tagen ist die Perspektive wieder eine andere,
es ist neben der deutschen Schuld auch von deutschen Opfern die
Rede, von Vertreibung, Vergewaltigungen, Bombenopfern. Marion Welsch
sieht darin keinen Widerspruch. Wenn sie zwischen Nationalsozialismus
und heute eine Verbindung herstellt, spricht sie nicht nur von Rechtsextremen,
sondern auch vom Irakkrieg. Die Weigerung da mitzumachen, ist für
sie Ausdruck einer Verantwortung, die die Elterngeneration lieber
noch nicht übernehmen wollte.
Beim List-Verlag hätten sie das Buch genommen,
weil Marion Welschs Sicht auf ihren Vater immer eine mitfühlende
bleibt: „Abrechnungen haben wir schon genug“, sagte
die Lektorin. Zwar macht die Autorin die wesentlichen Entdeckungen
nicht über ihren Vater, sondern in Archiven. Aber trotzdem
wächst ihr Verständnis. Das Buch ist weniger an den Ergebnissen
interessiert als an der Suche, dem Dialog. Obwohl es Marion Welsch
ein bisschen unangenehm scheint, vielleicht weil sie nicht wie eine
Missionarin klingen will, sagt sie: „Ich möchte andere
ermutigen, ihren Eltern und Großeltern ebenfalls Fragen zu
stellen.“ Das Buch als Gebrauchsanweisung.
Marion Welsch hat mittlerweile eine Idee für
ihr nächstes Buch im Kopf. Das heißt aber nicht, dass
ihre Familiengeschichte für sie erledigt ist. Vielleicht möchte
sie sich in Guttau für das Projekt „Stolpersteine“
einsetzen, das es zum Beispiel in Berlin gibt. Bronzesteine mit
Namen und Lebensdaten von Naziopfern werden in das Gehwegpflaster
eingebaut, bezahlt von Spenden. Als Marion Welsch ihrem Vater davon
erzählt, fragt er: „Bekommen wir auch einen Stolperstein,
wir sind doch auch vertrieben worden?“
Am Donnerstag um 19.30 Uhr liest Marion Welsch
in der Natura-Buchhandlung am Rathausmarkt.
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