Volker Eckert


Angebot
 
Texte
 
Lektorat
 
Preise
 
Über mich
 
Kontakt


 

Bibliothek zu verschenken

Burk Becker hat zehntausende wissenschaftliche Zeitschriften gesammelt, jetzt will er sie abgeben. Aber niemand hat Interesse, auch nicht im Ausland

Von Volker Eckert

Berlin/Friedersdorf - In Burk Beckers Privatbibliothek gibt es keine Eichenregale, keine dicken Teppiche oder gemütlichen Sessel. Auf PVC-Boden stapeln sich zerbeulte Kartons bis zur Decke, die Heizkörper haben Risse. Der Bibliothekar Becker hat im kleinen Friedersdorf südöstlich von Berlin fast 2000 Kartons mit wissenschaftlichen Zeitschriften gelagert in einem heruntergekommenen Bürobungalow. Die in 15 Jahren zusammengetragene Sammlung hielt er einmal für sein Kapital. Jetzt will er sie irgendwie loswerden. Geschenkt.

Was er da hat, könne mit dem Zeitschriftenbestand einer Unibibliothek mithalten, sagt Becker ruhig, als gehe es um eine kleine Briefmarkensammlung: alle Gebiete, vor allem aber die Naturwissenschaften. Zehntausende Exemplare von „Science“ und „Nature“, dem „Canadian Journal of Linguistics“, der „Zeitschrift für Geschichte und Gegenwart“. An die deutschen Botschafter sämtlicher Länder hat er geschrieben und gefragt, ob sie die nicht gebrauchen könnten. Aber keiner will sie haben.

Seit 15 Jahren arbeitet Becker freiberuflich für die Staatsbibliothek an der Potsdamer Straße (Stabi), sucht auf Bestellungen aus ganz Deutschland Zeitschriftenartikel, kopiert und verschickt sie. Dabei hat er mit fast allen Berliner Bibliotheken zu tun. Schnell fiel ihm auf, dass Bände manchmal irgendwo fehlen. Anderswo gab es sie doppelt. Und wenn Becker wieder mal im Haus war, hatte er den vermissten Band unterm Arm.

Das sprach sich herum, zum Beispiel bei der Firmenbibliothek der Schering AG. Hier kommt vieles mehrfach an. Heute geht alles an Becker, was früher im Altpapier landete. Auch die Stabi bekommt von vielen Zeitschriften, die sie nicht abonniert, jeden Band, einfach weil sie die bedeutendste Bibliothek des Landes ist. Auch das geht alles seit Jahren an Burk Becker. Einmal rief der Pförtner an und sagte, es sei eine Zeitschriftensendung gekommen. „Bringen Sie’s hoch“, sagte Becker. „Geht nicht“, nicht kam die Antwort. Eine Münchner Firma hatte ihm gleich 40 Umzugskartons geschickt.

„Becker Online Ordering“ steht an der Tür seines kleinen Büros irgendwo im riesigen Bauch der Stabi. Ungefähr 70 Kartons sind hier zurzeit wieder aufgelaufen, auf dem Klo und neben dem Waschbecken stapeln sie sich bis zur Decke. Während draußen die Sonne scheint, brennen in dem kleinen Raum mit Blick auf einen Lichtschacht die Neonleuchten. Auf vielleicht 15 Quadratmetern drängen sich hier zwei Kopierer, Faxgeräte, Bildschirme, Spüle, Regale mit Ordnern. Die in die Jahre gekommenen Schreibtische in dunklem Furnier hat er mal bei einer Sparkasse organisiert, erzählt Becker, die Regale bei Schering. Zigarettenqualm hängt in der Luft.

Becker (39) sieht mit seinem jungenhaften Kurzhaarschnitt, Brille und Fünftagebart ein bisschen wie ein Mathelehrer aus. Er studierte Theologie, brach ab und machte seinen Nebenjob zum Beruf. Aus der ärmellosen Lederjacke baumelt der Schlüsselanhänger vom Ökumenischen Kirchentag.

Vor Jahren waren acht Leute für ihn unterwegs, um die 100 Bestellungen pro Tag zu erledigen. Dass die Stabi ihn fest anstellen würde, war aber nicht zu erwarten. Da machte er sich mit seiner Bibliothek selbstständig. Mittlerweile haben aber auch die Zeitschriften-Verlage gemerkt, dass sich Geld damit verdienen lässt, Artikel einzeln zu verkaufen. Becker hat immer weniger zu tun, obwohl er günstiger ist. „Und jetzt verlangt die Schweinebande von uns auch noch ein Gebühr für jede Kopie“, schimpft er. Von den acht Mitarbeitern ist nur sein Bruder geblieben.

Dem schlaksigen Typ, dem die Jeans um die schmalen Hüften hängt, fällt das Stillsitzen in seinem Büro schwer. Mitten im Chaos zieht er plötzlich eine Zeitschrift aus dem Regal. In dem Stapel über Kopfhöhe liegen Raritäten und Neuerscheinungen, an die schwer heranzukommen ist, sein Best of. Becker hat oft feststellen müssen, dass die meisten Bibliothekare seine Sammelleidenschaft nicht teilen. Bot er Jahrgänge oder Titel an, die fehlten, hieß es oft: „Wir sind zufrieden mit dem, was wir haben.“ In manchen Institutsbüchereien arbeiteten schon keine Bibliothekare mehr, nur noch eine Sekretärin.

Seine Sammlung stapelte Becker anfangs auf dem Dachboden seines Mietshauses. Bis der Vermieter Angst bekam, den Bewohnern darunter könnte die Decke auf den Kopf fallen. Also schaffte er den Fundus nach Kolberg bei Königs Wusterhausen kurz hinter der Berliner Stadtgrenze, wo Freunde ein paar alte Häuser gekauft hatten. Vor ein paar Monaten bekamen die einen Kredit für den Umbau. Becker musste wieder raus.

Da kam ihm die Idee mit den Botschaften. Gerade aus Osteuropa hört man so viele Klagen über leere Bibliotheken, dachte er sich. Von den Polen zum Beispiel, die in Frankfurt (Oder) studieren, weil es zu Hause keine Bücher gibt. Es gab kaum Resonanz. Der mexikanische Botschafter antwortete, die von Jordanien und Serbien-Montenegro. Freundlich im Ton, wollten sie wissen, woraus die Sammlung bestehe. Die Serben bestätigten immerhin, dass „die Wissenschaft im Land leidet“. Becker war schon so weit, dass er sich bei der AWU nach der Entsorgung seiner Papierberge erkundigte. Das erzählt er zumindest. Vielleicht hat er sich das aber nur ausgedacht, um ein bisschen Druck zu machen.

Dann kam ein Brief von den Jamaikanern, die wirklich interessiert klangen. Becker schöpfte wieder Hoffnung, tat einen Raum in Friedersdorf auf und fing an, die Kartons in sein Campingmobil zu laden. 50 Euro Miete zahlt er jetzt dort im Monat, sein Konto ist überzogen. Seine Frau hat es inzwischen aufgegeben, ihn davon abzubringen, die Söhne, 15 und 17, müssen an den Wochenenden beim Umzug helfen. Von Jamaika hat er seitdem nichts mehr gehört – von den andern auch nicht. Er sagt: „Ich kann es nicht leiden, wenn etwas nicht geht, was gehen könnte.“

Den Berliner Bibliotheken hat Becker seine Sammlung erst gar nicht angeboten. „Damit würden sie jede Bücherei in der Stadt lahm legen“, sagt er. Das Personal reiche nicht aus, schließlich sei die Sammlung nicht sortiert. Aber Geld haben gerade die Unibibliotheken immer weniger. Dieser Niedergang wird für Studenten fatale Folgen haben, schätzt Becker. Eine Doktorarbeit zu schreiben werde immer teurer. Bei der Stabi zahlen Studenten für jeden Artikel sieben Euro, bei den Verlagen gelten Marktpreise. Je nach Renommee von Zeitschrift und Autor könnten schon mal 100 Euro für einen Aufsatz fällig werden.

Seine Kunden sind aber nicht nur Wissenschaftler. Vor Jahren meldete sich das Haus Hohenzollern bei ihm. Der einstige Thronfolger Louis Ferdinand war gestorben, die Familie wollte vor der Beerdigung seinen Taufspruch herausfinden. Nach zwei Tagen Suche hatte Becker ihn gefunden, Geld hat er dafür keins gesehen: „Die dachten wohl“, sagt er grinsend, „ein preußischer Beamter macht das umsonst.“

(gekürzt erschienen im Tagesspiegel vom 26. September 2004) zurück zur Textübersicht