Volker Eckert


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Europas Höhen und deutsche Niederungen

Wolfgang Thierse wurde beim EU-Abend in Kleinmachnow von der hiesigen Reformdebatte eingeholt

Von Volker Eckert

Kleinmachnow - Der Bundestagspräsident ist nicht leicht in Verlegenheit zu bringen. Aber auf eine Frage hat Wolfgang Thierse am Mittwochabend erstmal nur mit einem lang gezogenen, fast geseufzten „Tja …“ geantwortet. Ein Genosse hatte ihn im Kleinmachnower Sportforum gefragt, was man denn gegen den um sich greifenden Egoismus tun könne. Da hatte sich die Diskussion schon längst vom eigentlichen Thema des Abends entfernt: der Osterweiterung der Europäischen Union.

Der Sozialdemokrat Thierse fing sich schnell wieder, zitierte frei nach Habermas („Solidarität ist eine knappe Ressource“) und konstatierte eine um sich greifende „Privatisierungsideologie“. Auf Einladung seines Genossen Jens Klocksin, der bei den Landtagswahlen für die SPD als Direktkandidat antreten wird, war Thierse nach Kleinmachnow gekommen, und das trotz Sitzungswoche im Bundestag: „Das habe ich reingequetscht, ich bin doch ein pflichtbewusster Sozialdemokrat.“

Als Thierse fünf Minuten zu früh aus seinem Dienstwagen stieg, stand Klocksin aber die Panik im Gesicht. Erst eine Handvoll Genossen verlor sich da im Saal. Rund 20 wurden es immerhin noch und Thierse ließ sich keine Enttäuschung anmerken. Angela Merkel war es ein paar Stunden vorher kaum besser ergangen: Ihren groß angekündigten Auftritt am Brandenburger Tor wollten 200 Leute sehen. „Am Ende des Abends werden wir den Termin der Europawahl verraten“, scherzte Klocksin in Anspielung auf das geringe Interesse. Europakandidat Norbert Glante fehlte übrigens, weil er schon einen Termin zugesagt hatte, als Thierse sich anmeldete.

Der begann den Abend mit einem vehementen Plädoyer für die europäische Wiedervereinigung („Osterweiterung klingt mir zu technisch“). Das zentrale Ziel: Frieden. Und Thierse verstand es, den Bogen zu dem zu schlagen, was andere für den wesentlichen Inhalt der EU halten: „Schon bei den Anfängen der Europäischen Gemeinschaft versuchte man mit der Montanunion Frieden über wirtschaftliche Vernetzung zu erreichen.“

Er verstehe die Befürchtungen in der Bevölkerung, weitere Arbeitsplätze könnten verlagert werden, sagte Thierse. Als Exportweltmeister, der Deutschland noch immer sei, werde es von der Erweiterung profitieren. Was die niedrigeren Löhne und Steuern in Ländern wie Tschechien und Polen anbetreffe, sagte Thierse eine schrittweise Angleichung voraus: „Wir müssen dafür kämpfen, dass diese Länder ihr Wachstum in soziale Politik umsetzen.“ Der Sozialstaat sei eine der wichtigsten Errungenschaften Europas.

Mit den anschließenden Fragen aus dem Publikum verlagerte sich die Diskussion schnell von Europa zur innenpolitischen Reformdebatte. Eine Anhebung der Mehrwertsteuer forderte der Kleinmachnower SPD–Fraktionschef Bernd Bültermann; Volker Manhenke, der 1990 mit Thierse in der Volkskammer saß, hielt die Wiedereinführung der Vermögenssteuer für psychologisch klug: „Dafür wählen uns die Leute doch.“

Thierse wiegelte ab: Eine Mehrwertsteuererhöhung sei gerade in Krisenzeiten gefährlich, weil sie das falsche Signal setze. Zur Vermögenssteuer sagten alle Fachleute, dass unter dem Strich kaum Einnahmen damit zu erzielen seien. Das Argument überzeugte allerdings die Genossen nicht, immer wieder kam die Forderung – und vom Bundestagspräsidenten die immer gleiche Antwort. Er sprach sich dafür aus, über die Erbschaftssteuer mehr Einnahmen zu erzielen. Das müsse ausgearbeitet werden, um weniger Wohlhabende nicht zu sehr zu belasten.

Gastgeber Jens Klocksin hielt sich zurück, überließ Thierse und den Gästen das Feld. Als er sich kurz vor Ende des Abends doch noch mit einer Frage an die Runde wandte, erntete er entschiedenen Widerspruch bei seinem Gast. Die Frage nach einer Abstimmung der Bevölkerung über die EU-Verfassung hält der nämlich für sehr heikel. Der Vertrag sei ein Kompromisswerk zwischen 25 Staaten. „Ein Scheitern wäre ein verheerendes Signal für Europa.“

(PNN vom 28. Mai 2004) zurück zur Textübersicht