Erst kommt die Moral, dann die
Schule
In Berlin
müssen Klassenfahrten ausfallen, weil muslimische Kinder aus
religiösen Gründen nicht teilnehmen
Von Volker Eckert
In vielen Berliner Schulen können Klassenfahrten
nicht mehr stattfinden, weil muslimische Eltern ihren Kindern verbieten,
mitzufahren. Denn einer Richtlinie zufolge sollen nicht mehr als
10 Prozent einer Klasse bei der Reise fehlen. Allein im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg
bleiben hunderte muslimische Kinder zu Hause, das ergab eine Umfrage
der Schulaufsicht des Bezirks. In manchen Berliner Schulen mussten
Klassenfahrten demzufolge ausfallen, „andere Schulen planen
schon keine Reisen mehr“, sagt Gerhard Schmid, Leiter der
Schulaufsicht von Friedrichshain-Kreuzberg. „Die Dunkelziffer
ist hoch.“
Die Umfrage zeigt zum ersten Mal, wie viele Schüler
aus muslimischen Familien in Berlin Unterricht aus religiösen
Gründen versäumen. Dabei geht es sowohl um Klassenfahrten,
als auch um den Biologie- und Sportunterricht. Eine präzise
Gesamtzahl lässt sich aus dem Papier der Behörde zwar
nicht herauslesen, da manche Schulen mit Prozentangaben oder Formulierungen
wie „viele“ und „oft“ gearbeitet haben.
Das Problem taucht aber praktisch an jeder Schule auf . Dass Mädchen
nicht an Ausflügen teilnehmen, weil die Eltern Angst haben,
dass Jungen ihnen da zu nahe kommen und so die Familienehre beschädigen,
ist laut Schmid „die Regel“.
Überrascht war Schmid dagegen von den Zahlen
zum Biologie- und Sportunterricht. Hier entziehen sich viele Muslime,
weil sie vor allem ihren Töchtern nicht zumuten wollen, ihre
Haut zu zeigen oder in Sexualkunde Bilder nackter Menschen zu sehen.
Im Internet können Eltern sich vorgefertigte Briefe ausdrucken,
auf denen auch mit entsprechenden Gerichtsurteilen argumentiert
wird. Von vielen der insgesamt rund 50 Fälle im Bezirk wusste
die Behörde gar nichts. Und sie wären wohl auch nicht
so schnell bekannt geworden, hätte nicht die Fraktion der Grünen
in der Bezirksverordnetenversammlung eine Anfrage gestellt und damit
die Schulaufsicht zum Nachforschen gezwungen.
Beispiel Jens-Nydahl-Grundschule nahe dem Kottbusser
Tor: Hier kommen nach Angaben der Schulleitung „zwei bis sechs
Schülerinnen“ nicht zum Sexualkundeunterricht. Biologielehrer
seien von muslimischen Kindern als Schweine bezeichnet worden, heißt
es in der Antwort auf die behördliche Anfrage. Andere Schüler
kämen zwar zum Unterricht, würden ihn aber stören.
Gerhard Schmid wundert sich: „Da hätten wir eingeschaltet
werden müssen.“ Es gebe die Praxis, Schüler während
der Sexualkunde in Parallelklassen zu setzen. Aber das verstößt
gegen die Schulpflicht. Anne Rühle, Sprecherin der Senatsverwaltung
für Bildung, war gestern nicht in der Lage, die Tragweite des
Problems einzuschätzen: Dazu fehlten die Zahlen. Zur Forderung
von Gerhard Schmid, die Zahlen für ganz Berlin zu ermitteln,
sagte sie: „Es wäre sinnvoll, das mal zu erheben.“
Zugleich warnte Rühle, dass angesichts von Terrorgefahr und
Kopftuchdebatte der Moment ungünstig sei. „Wir wollen
die Leute nicht stigmatisieren.“
Rühle und Schmid sind sich immerhin einig:
Gegen hartnäckige Eltern muss Druck ausgeübt werden, bis
zu einer Schulversäumnisklage, die in ein Bußgeld münden
kann. Die müssten die Schulen aber selber erstatten, was oft
nicht geschieht. Noch schlechter sieht es bei den Klassenfahrten
aus. Die fallen nicht unter die Schulpflicht, deshalb hat der Staat
keine Handhabe.
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