Wer
heult, fliegt raus
Seit 25 Jahren sitzt Sabine im Rollstuhl und
ist rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen. Immer noch kämpft
sie darum, ein normales und so freies Leben wie möglich zu
führen – mit Helfern, Behörden und Arbeitgebern.
Am meisten aber mit sich selbst
Von Volker Eckert
Sabine ist zum ersten Mal bei einem Augenarzt. Er
hat ein paar Tests mit ihr gemacht, nun sitzt sie ihm gegenüber,
hört sich die Diagnose an. Dennoch kommt es ihr vor, als würde
sie ein fremdes Gespräch belauschen. Der Mann scheint gar nicht
mit ihr zu sprechen, er schaut sie überhaupt nicht an. Sein
Blick geht die ganze Zeit zu Jürgen, dem Helfer – als
ob der krank wäre.
Sabine, 43, erlebt solche Situationen häufig,
etwa beim Einkaufen. „Es ist nicht leicht, ernst genommen
zu werden“, sagt sie. „Man denkt schnell, man wird nicht
respektiert. Da wird man automatisch übersensibel.“ Sabine
weiß auch, dass es daher nicht immer leicht ist, mit ihr auszukommen.
Seit einem Unfall mit 18 Jahren ist Sabine vom fünften
Halswirbel abwärts gelähmt und ständig auf Hilfe
angewiesen. Trotzdem lebt sie nicht im Heim, sie hat eine kleine
Zweizimmerwohnung in Berlin. In welchem Bezirk, will sie lieber
nicht in der Zeitung lesen, genauso wenig wie ihren vollen Namen.
Vor ein paar Jahren ist sie einmal in einer Fernsehsendung aufgetreten.
Eine Woche später bekam sie einen Brief von einem Mann, der
ihre Adresse herausgefunden hatte. Die Sache war ihr unheimlich.
Sabine glaubt, dass Typen, die sich für Behinderte interessieren,
oft ein bisschen eigenartig sind.
Vielleicht ist Sabine ängstlicher als die meisten
Menschen, sie kann sich eben nicht wehren. Richtig bewegen kann
sie nur Kopf und Schultern. In den Armen hat sie kaum noch Kraft,
die Hände kann sie nicht mehr öffnen. Manches bekommt
sie aber noch hin: Die Hände putzt sie mithilfe einer Ledermanschette,
die die Bürste hält. Langsam und mit viel Mühe kann
sie so auch schreiben, sogar sehr schön; nur der blasse, dünne
Schriftzug verrät, wie vorsichtig sie den Kugelschreiber führt.
Ein Glas kann Sabine aber nicht greifen und schon gar nicht ihren
Rollstuhl bewegen.
Nach dem Unfall v erbrachte sie zehn Monate in Krankenhaus
und Reha-Klinik, machte dann Abitur auf einer Schule für Behinderte
in Neckargemünd. 1981 begann sie, in Mannheim Sozialarbeit
zu studieren. Sie hätte auch am Berufsbildungswerk anfangen
können, aber dann wäre sie wieder nur unter Behinderten
gewesen, und davon hatte sie nach vier Jahren Behindertenkarriere
genug. Sie kaufte sich einen gelben VW-Bus, Zivis begleiteten sie
an die Uni. So entkam sie mehrere Stunden am Tag der Heimwelt.
Während dieser Zeit freundete sie sich mit Margaret
an, einer Krankengymnastin. 1986 zogen sie zusammen. Jetzt hatte
Sabine immer Zivis als Helfer, konnte bestimmen, wann sie wohin
geht. Und musste sich mit 19-Jährigen herumschlagen, die schlecht
bezahlt wurden und „noch nie in ihrem Leben geputzt oder gekocht
hatten“. Noch heute ist Sabine mit den haushalterischen Fähigkeiten
mancher Helfer nicht immer zufrieden.
Immerhin sucht sie die Helfer mittlerweile selbst
aus: einige Studenten, ein paar Künstler, die dazuverdienen
müssen. Nicht viele mit ihrer Behinderung leben in einer eigenen
Wohnung. Rund um die Uhr ist jemand da, bringt ihr morgens den Kaffee
ans Bett, räumt die Wohnung auf und kauft ein, kocht, wäscht,
schaltet den Fernseher ein oder fährt mit ins Theater.
Meist geschieht das nach sehr genauen Anweisungen.
Wenn Sabine feststellt, dass beim Staubsaugen geschlampt wurde,
oder sie nicht vernünftig in den Rollstuhl gesetzt worden ist,
kann sie ziemlich sauer werden. Sie hat dann das Gefühl, dass
ihre Bedürfnisse nicht respektiert werden. „Ich muss
immer wieder aufpassen, dass sich das nicht verselbstständigt“,
sagt sie dennoch selbstkritisch. „Man verliert schnell die
Fähigkeit, sich in den andern hineinzuversetzen.“ Ein
Helfer hat einmal zu ihr gesagt, sie sei manchmal „zwanghaft“.
25 Jahre nach ihrem Unfall sagt Sabine, dass sie sich
mit ihrer Behinderung arrangiert hat. Sie kennt Querschnittgelähmte,
die hoffen, dass die Medizin es irgendwann fertig bringt, dass sie
wieder laufen können. Leute, die schon jahrelang im Rollstuhl
sitzen. Sie selbst glaubt daran nicht, und will auch gar nicht mit
dieser Hoffnung leben: „Der Zug ist abgefahren.“ Trotzdem
bleibt es ihr größter Wunsch, sie wäre nicht behindert.
Vor dem Unfall war sie Turnerin, tanzte sehr gern. Sie kann sich
an dieses Gefühl noch erinnern, besonders wenn sie andere tanzen
sieht oder Musik hört, die ihr gefällt. Aber sie kann
es nicht mehr ausdrücken: „Das ist noch in mir drin.
Aber niemand sieht es.“
Dass sie den körperlichen Idealen nicht entspricht,
darunter leidet sie. Trotzdem orientiert sie sich noch immer an
Nicht-Behinderten, „am schönen Körper“. Das
kann sie nicht abschütteln.
Sie spricht offen über ihre Behinderung, wenn
sich jemand dafür interessiert. In „Liebe Sünde“
auf Pro 7 ließ sie sich einmal über Sexualität und
Behinderung befragen. Dass sie das letzte Mal mit einem Mann zusammen
war ist schon über zehn Jahre her. Sehnsüchte hat sie
schon, sagt Sabine. Aber sie unternimmt nichts. Natürlich könnte
sie eine Anzeige aufgeben. Aber sie ist misstrauisch, was für
Leute sich da melden. Auch weil sie es schon bei andern Behinderten
mitbekommen hat. Wer sucht sich freiwillig eine Frau im Rollstuhl
aus? Oft hat sie das Gefühl, dass Männer ihre Sexualität
gar nicht wahrnehmen.
Der Unfall passierte auf einer Party im Gemeinderaum
der Evangelischen Kirche. Es war vielleicht halb neun, da ging ein
Freund, Jörg, in die Hocke, um sich die Schuhe zuzubinden.
Sabine klemmte zum Spaß seinen Kopf zwischen ihre Beine, er
stand auf und sie stürzte über seine Schulter.
Seit sie in Berlin lebt, wohnt sie in einem ehemals
besetzten Haus. Die Verbindung kam damals über einen früheren
Zivi aus Heidelberg zustande. Bevor sie einzog, musste sie sich
damals dem Plenum stellen, allen Bewohnern. Zwei, drei Leute hatten
Bedenken wegen ihrer Behinderung, dachten, Sabine würde regelmäßig
Hilfe verlangen. Am Ende hat es ihr aber wohl mehr genutzt als geschadet.
Behindertenbonus nennt sie das.
Vielleicht ist es auch ein Bonus, dass sie als Behinderte
denkt, ein bisschen mehr tun zu müssen als andere. Die Leute
haben nun mal Berührungsängste, also macht sie den ersten
Schritt. Sie muss zeigen, dass sie ganz normal ist. Eine große
Klappe hat sie nach eigener Einschätzung schon immer gehabt.
Vielleicht hat der Unfall das noch gefördert. Ihre Eltern und
Geschwister erzählen ihr gern, was sie nach ein paar Tagen
im Krankenhaus zu ihnen gesagt hat: „Wer heult, fliegt raus.“
Bis vor zwei Jahren hat Sabine in einem Selbsthilfeprojekt
für Behinderte gearbeitet. Doch irgendwann lief die geförderte
Stelle aus. Etwas Neues finden ist nicht leicht. Eine volle Stelle
könnte sie niemals antreten, dafür nimmt die Bewältigung
des Alltags in ihrem Leben viel zu viel Raum ein. Am Computer kann
sie nur sehr langsam arbeiten. Das ist nicht ideal.
Dabei interessiert sich Sabine nicht nur für
Behindertenarbeit. In Mannheim hätte sie gern Kunstgeschichte
studiert, doch in der Fakultät gab es keine Aufzüge. Sie
befasst sich heute noch viel mit Kunst. Aber das zum Beruf machen?
So liest sie mal eine Weile lang Bücher über Evolution,
dann schaut sie sich alle vier Teile vom Ring des Nibelungen in
der Deutschen Oper an und beschäftigt sich mit Wagner. Aber
die Interessen wechseln, und immer hat sie das Gefühl, auf
der Suche zu sein. Dazu kommt eine Eigenschaft, die sie schonungslos
so beschreibt: „Faulheit, Antriebsschwäche, Bequemlichkeit.“
Es ist eben manchmal auch einfach, sagt Sabine, sich hinter der
Behinderung zu verstecken.
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